Sonntag, 25. April 2021

Die Kleine muss zur Kur!

 Es war im März 1984. Gerade erst waren wir aus der Mietwohnung des komfortabelen 6 WE (Wohneinheiten) in das Elternhaus meines Vaters gezogen, da wurde ich erneut schonungslos aus meiner Behaglichkeit gerissen.


Wie schon mehrfach erwähnt, sorgte sich der Staat DDR allumfassend um das gesundheitliche Wohl seiner Bürger; und dass von Anfang an. 


Mehr oder weniger engagiertes medizinisches Fachpersonal gab sich in der Schule die Klinke in die Hand. Angefangen mit Gemeindeschwester Anita, die unsere Köpfe in regelmäßigen Abständen nach Läusen und Nissen absuchte (und auch fündig wurde...),  über den gefürchteten Zahnarzt, bis zum Allgemeinmediziner, der unseren gesundheitlichen Zustand im Auge hatte. Letzteren habe ich den vierwöchigen Aufenthalt im Kinderkurheim "Markower Mühle" zu verdanken.


Als Kind war ich doch eher schmächtig, um nicht zu sagen klein und dünn. Meine Klassenlehrerin betitelte mich gar als Klassenmaus. Dies blieb auch der Weißkittelfraktion nicht verborgen, so dass diese mir im besagten Jahre 1984 die verpflichtende Empfehlung einer Kur aussprach. 


Ausgestattet mit eben dieser Empfehlung, einer ellenlangen Inhaltsliste für den zu packenden Koffer und der Bekanntgabe der Heilanstalt, präsentierte ich alles meinen Eltern mit der Bitte, mich um Gottes Willen bloß nicht ziehen zu lassen.


Aber es half nichts. An einem sonnigen Tag im März 1984 fand ich mich auf dem Busbahnhof unserer Kreisstadt wieder. Außerhalb der gängigen Haltestellen war ein Bus eigens für eine Vielzahl an Kindern gebucht worden, die im Gefolge ihrer Eltern Abschied für ganze vier Wochen nehmen mussten. Meine Kindergarten- und Schulfreundin Liane war zum Glück auch unter den zu therapierenden Hungerhaken; ich hätte sonst bestimmt spätestens jetzt die Flucht gen Heimat angetreten. Meine Angst vor Fremden und dem Unbekannten schlug in totale Verweigerung und Heimweh um. Der Abschied von meinen Eltern fiel unsagbar schwer. Hier habe ich meinen Vater das erste Mal weinen sehen; dieses Bild sollte mich die nächsten Wochen begleiten.


Nach einer gefühlten Ewigkeit, kamen wir irgendwann in der "Aufpeppelungs-Anstalt" mitten in einem Wald an. Eigentlich hatte ich mit einem dieser unterkühlten DDR-Bauten gerechnet, aber hier lud eine alte, zum Zwecke umgebaute Wassermühle die ankommenden Kinder ein. Kaum zu glauben, dass hier an die vierzig Kinder Unterschlupf fanden. Das Gebäude und die Lage desselben müsste heute Immobilienmaklern die Augen zum Leuchten bringen...


Auf der Eingangstreppe des Hauses empfingen uns die Heimleiter, ein Ehepaar mittleren Alters, die sogleich bei mir unten durch waren. In typischer Drill- und sozialistischer Erziehungsmanier erklärten sie uns im Schnelldurchlauf das Programm der nächsten vier Wochen, gepaart mit all den Verordnungen und Verboten, dass einem die letzte Lebensfreude abhanden kam.


Es begannen für mich die schlimmsten Wochen meines bisherigen Lebens. Einem durchgetakteten Tagesablauf folgend, gewann man schnell den Eindruck, was Lager- oder Kasernenleben bedeuten könnte. In aller Frühe wurden wir unsanft geweckt, um bei Eiseskälte dem Frühsport zu fröhnen. Anschließend Morgentoilette ohne Privatsphäre im Waschsaal, Frühstück, Schule, Mittag, Mittagsschlaf, Kaffee, Ernährungs- und Gesundheitslehre, Abendbrot, Abendtoilette, ab ins Bett. Tag ein, Tag aus. Nur einmal ging es ins Kino der Kreisstadt; gezeigt wurde ein Kriegsfilm mit Untertiteln aus der Sowjetunion...


Ich habe in dieser Zeit erfahren müssen, dass der einzelne Mensch im System nicht viel galt. Einige Kinder hat es vor Heimweh schier zerrissen. Die unterkühlte Art der Erzieher, der Zwang, allen Vorgaben zu folgen und der fehlende Kontakt zu den Lieben daheim (in der DDR gab es bekanntermaßen kaum Privattelefone), ließen bei einigen von uns den Erfolg einer Therapie ins Gegenteil umschlagen.


Hatte ich mir in den ersten Nächten die Augen vor lauter Heimweh ausgeheult, schlug meine Stimmung mit der Zeit in Gleichgültigkeit und Verweigerung um, zählte dann alsbald die Tage, bis dieser Spuk hier vorbei sein würde. Eines der Kinder war währenddessen heimwehbedingt vorzeitig nach Hause geschickt worden, ein anderes, weil es sich der Zwangsernährung widersetzt hatte.


Diese Kur hatte bei mir auf ganzer Linie versagt. Nahm ich anfangs gar an Gewicht ab, waren es am Ende 800 Gramm, die ich zusätzlich auf die Waage brachte. Vieles, was uns zwanghaft zum Essen gereicht wurde, nehme ich bis heute nicht zu mir. Menschen, die mir ihren Willen aufzwingen wollen, verabscheue ich. 


Mein Fazit aus dieser Geschichte: Über Kinder sollte man nicht verfügen. Auferlegter Zwang kann nicht von Erfolg gekrönt sein. Ich bin später von ganz alleine größer und gewichtiger geworden. Zum Ende der Schulzeit war ich die zweitgrößte der Klasse, na und das mit dem Gewicht... Zumindest nimmt man mir die Klassenmaus heute nicht mehr ab...